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Die ersten Jahrzehnte des neuen Kaiserreichs waren innen- wie außenpolitisch in hohem Maße von der Person Bismarcks geprägt. Dabei zerfällt die Zeit zwischen 1871 und 1889 deutlich in zwei Phasen: Von 1871 bis 1878/79 arbeitete Bismarck vornehmlich mit den Liberalen zusammen. In der folgenden Zeit dominierten die Konservativen und das Zentrum. Liberale Ära bis 1878 Angesichts des Verfassungskonflikts der sechziger Jahre in Preußen ist es auf den ersten Blick verwunderlich, dass Otto von Bismarck bereits während des Bestehens des Norddeutschen Bundes und in den ersten Jahren des Kaiserreichs politisch mit den Liberalen eng zusammenarbeitete. Ein zentraler Grund dafür waren die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag, in dem die Liberalen eine starke Mehrheit hatten. Die Nationalliberalen allein hatten 1871 125 von 382 Sitzen. Rechnet man die Abgeordneten der Liberalen Reichspartei und der Fortschrittspartei hinzu, hatte der Liberalismus die absolute Mehrheit; diese wurde meist noch durch die Freikonservativen verstärkt. Nach der Reichstagswahl von 1874 besaßen die Liberalen allein mit 204 von 397 Abgeordneten die absolute Mehrheit. Gegen sie konnte der Reichskanzler kaum regieren und mit den Konservativen hätte er bei anderen Mehrheitsverhältnissen wohl auch nicht regieren können: Sie verweigerten sich der Politik Bismarcks und das Zentrum fiel spätestens mit Beginn des Kulturkampfs als mögliches Gegengewicht aus. Erleichtert wurde die Politik der Reichsgründungsphase durch die boomende Entwicklung vieler Wirtschaftszweige, was zur gesellschaftlichen Akzeptanz liberaler Reformen beitrug. Innen- und rechtspolitische Reformen Die eigentlichen Partner Bismarcks waren die Nationalliberalen unter Rudolf von Bennigsen. Diese waren zwar in vielen Punkten kompromissbereit, ihnen gelang es aber auch, zentrale liberale Reformvorhaben durchzusetzen. Erleichtert wurde die Zusammenarbeit durch liberale Beamte wie den Chef des Reichskanzleramts Rudolph von Delbrück oder den preußischen Finanzminister Otto von Camphausen sowie den Kultusminister Adalbert Falk. Der Schwerpunkt der Reformen war die Liberalisierung der Wirtschaft. So wurden in allen Bundesstaaten Gewerbefreiheit und Freizügigkeit eingeführt, sofern sie noch nicht bestanden. Im Sinne des Freihandels liefen die letzten Schutzzölle für Eisenwaren aus. Ein Marken- und Urheberschutz sowie ein einheitliches Patentgesetz wurden eingeführt. Erleichtert wurde auch die Gründung von Aktiengesellschaften. Außerdem wurden Maße und Gewichte normiert und die Währung vereinheitlicht: 1873 wurde die Mark (später ‚Goldmark‘ genannt) eingeführt. 1875 wurde die Reichsbank als zentrale Notenbank gegründet. Ein weiterer Schwerpunkt war der Ausbau des Rechtsstaates, dessen Grundlagen teilweise bis in die Gegenwart Bestand haben. Zu nennen ist das in Grundzügen heute noch geltende, wenn auch vielfach novellierte Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Dieses ähnelt stark dem Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1870. Meilensteine waren die Reichsjustizgesetze von 1877, namentlich das Gerichtsverfassungsgesetz, die Strafprozessordnung, die Zivilprozessordnung, die ebenfalls inhaltlich verändert heute noch in Kraft sind, sowie die Konkursordnung. Durch das Gerichtsverfassungsgesetz wurde 1878 das Reichsgericht als höchstes deutsches Straf- und Zivilgericht eingeführt. Ein einheitlicher oberster deutscher Gerichtshof, der auch das bestehende Reichsoberhandelsgericht ablöste, trug zur rechtlichen Vereinheitlichung des Reiches stark bei. Daneben gelang es der liberalen Mehrheit auch, die Zuständigkeiten des Reichstages in Fragen des Zivilrechts auszuweiten. War das Parlament im Norddeutschen Bund nur für zivilrechtliche Fragen mit wirtschaftlichem Hintergrund zuständig, wurde auf Antrag der nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Johannes von Miquel und Eduard Lasker die Zuständigkeit 1873 auf das gesamte Zivil- und Prozessrecht ausgeweitet. In der Folge entstand das 1896 beschlossene und am 1. Januar 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch als bis heute geltende Privatrechtskodifikation. Allerdings mussten die Liberalen im Bereich der Prozessordnung und der Pressegesetzgebung weitreichende Kompromisse hinnehmen, die von einem Teil der Linksliberalen nicht mitgetragen wurden. Eine Mehrheit kam 1876 nur mit Hilfe der Konservativen zustande. Da auch im preußischen Abgeordnetenhaus eine liberale bis gemäßigt konservative Mehrheit vorhanden war, kam es auch im größten Bundesstaat zu politischen Reformen. Dazu zählt etwa die preußische Kreisordnung von 1872, die auch die Reste ständischer Herrschaftsrechte beseitigte. Das drohende Scheitern am Widerstand des preußischen Herrenhauses konnte freilich nur durch einen „Pairsschub“ (also die Ernennung neuer politisch genehmer Mitglieder) gebrochen werden. Kulturkampf Die Zusammenarbeit zwischen Liberalen und Bismarck funktionierte nicht nur bei der Reformpolitik, sondern auch im sogenannten Kulturkampf gegen die Katholiken und die Zentrumspartei. Die Ursachen lagen strukturell im Gegensatz zwischen dem säkularen Staat, der immer mehr Regelungskompetenzen beanspruchte, und einer Amtskirche, die sich im Zeichen des Ultramontanismus der Moderne in allen ihren Ausprägungen entgegenstellte („Antimodernismus“). Die Enzyklika Quanta Cura von 1864 mit ihrem Syllabus errorum war eine klare Absage an die Moderne. Für die katholische Kirche repräsentierte der Liberalismus als Erbe der Aufklärung und als Träger der Modernisierung den Gegensatz ihrer eigenen Positionen. Für die Liberalen ihrerseits war das Papsttum mit seiner Ablehnung jeglicher Veränderungen ein Relikt des Mittelalters. Bismarck hatte verschiedene Gründe für den Kulturkampf. Zum Beispiel verdächtigte er den Klerus, die polnische Bewegung in den preußischen Ostprovinzen zu fördern. Auch er wollte grundsätzlich nicht, dass die staatliche Autorität und die Einheit des Reiches durch andere ältere Mächte eingeschränkt werden könnten. Innenpolitisch ging es ihm auch darum, die Liberalen durch die Umlenkung der politischen Debatte von weiteren innenpolitischen Reformvorhaben abzubringen. Die Auseinandersetzung zwischen modernem Staat und ultramontaner Kirche war ein gemeineuropäisches Phänomen. Auch in deutschen Staaten wie Baden (Badischer Kulturkampf) und Bayern hatte es bereits in den 1860er Jahren einen Kulturkampf gegeben. Die katholischen Bischöfe in Deutschland haben die päpstliche Kritik an der Moderne meist nicht offensiv verfolgt, auch gab es seit 1866 keine katholische Fraktion mehr im preußischen Abgeordnetenhaus. Vielmehr hat sich der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler 1866 für eine Anerkennung der kleindeutschen Lösung ausgesprochen. In der Anfangsphase ab 1871 ging es Liberalen und Regierung darum, den staatlichen Einfluss zu verstärken. Das Strafgesetzbuch wurde um den sogenannten „Kanzelparagraphen“ erweitert, der die politische Betätigung von Geistlichen einschränken sollte. Der als ultramontane ‚Speerspitze‘ geltende Jesuitenorden wurde verboten. Außerdem wurde in Preußen die staatliche Schulaufsicht eingeführt. In einer zweiten Phase etwa ab 1873 griff der Staat nunmehr direkt in den Innenbereich der Kirche ein, indem etwa die Priesterausbildung oder die Besetzung kirchlicher Ämter staatlicher Kontrolle unterworfen wurden. In einem dritten Schritt folgten ab 1874 weitere Gesetze wie die Einführung der Zivilehe. Reine Repressionsinstrumente waren ein Expatriierungsgesetz vom Mai 1874, das es erlaubte, den Aufenthalt von unbotmäßigen Geistlichen zu beschränken oder sie notfalls auszuweisen. Das sogenannte Brotkorbgesetz sperrte der Kirche alle staatlichen Zuwendungen. Im Mai wurden alle Klostergemeinschaften aufgelöst, sofern sie sich nicht ausschließlich der Krankenpflege widmeten. Eine Folge der Kulturkampfgesetze war, dass in der Mitte der 1870er Jahre viele Pfarrstellen vakant waren, keine kirchlichen Handlungen mehr stattfanden, Bischöfe verhaftet, abgesetzt oder ausgewiesen waren. Aber die Regierungsmaßnahmen und die Forderungen der Liberalen führten innerhalb des katholischen Deutschlands rasch zu Gegenreaktionen und zu einer breiten politischen Mobilisierung. Die noch vor dem eigentlichen Beginn des Kulturkampfes gegründete Zentrumspartei zog rasch einen Großteil der katholischen Wähler an sich. Grenzen der Zusammenarbeit Bismarck und die Liberalen stimmten nicht in allen Punkten überein. So scheiterte etwa der Versuch von Nationalliberalen und Fortschrittspartei, die verschiedenen Städteordnungen zu vereinheitlichen, auch an der mangelnden Unterstützung durch den Reichskanzler. Vorerst am Einspruch Bismarcks war zunächst auch eine Finanzreform gescheitert. Ein Dauerproblem blieb der Militäretat. Anfangs konnte man den Konflikt noch vor sich herschieben, aber spätestens 1874 stand er wieder an. Während die Regierung und insbesondere Kriegsminister Albrecht von Roon eine Dauerbewilligung des Etats (Aeternat) verlangte, beharrten die Liberalen auf einem jährlichen Bewilligungsrecht. Ein Nachgeben hätte den Verzicht auf eine Mitgestaltung von etwa achtzig Prozent des Gesamtetats bedeutet. Die Auseinandersetzung endete mit einem Kompromiss der Bewilligung für sieben Jahre (Septennat). Immerhin blieb es bei der Regelung der Militärstärke durch Gesetz, allerdings über einen recht langen Zeitraum gestreckt. Ferner konnten sich die Liberalen nicht durchsetzen beim Beamtenrecht, beim Militärstrafrecht und mit der Forderung nach Schwurgerichten bei Pressevergehen. Den Liberalen war es in der ersten Hälfte der 1870er Jahre durchaus gelungen, in einer Reihe von Politikfeldern ihre Handschrift erkennen zu lassen, allerdings war dies nur durch Kompromisse mit Bismarck möglich. Nicht selten war der Machterhalt wichtiger als die Durchsetzung liberaler Prinzipien. Auch intern gab es Kritik etwa an den Ausnahmegesetzen des Kulturkampfes. Insbesondere gelang es nicht, die Rechte des Parlaments zu stärken. Dies führte innerhalb des liberalen Lagers zu Spannungen und zur Enttäuschung bei einigen Wählergruppen. Zudem war mit dem Zentrum eine neue politische Richtung entstanden. Seither konnten die Liberalen nicht mehr beanspruchen, die eigentliche Vertretung des gesamten Volkes zu sein. Bismarck gelang es in den frühen 1870er Jahren, die Staatsmacht zu stärken. Allerdings führte das Bündnis mit den Liberalen dazu, dass auch die Regierung Zugeständnisse machen musste und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung Vorschub leistete. Gründerjahre und Gründerkrise 1873 Schon kurz nach der Reichsgründung erfolgte ein Wirtschaftsaufschwung, die sogenannten Gründerjahre begannen. An diese schloss sich mit dem „Gründerkrach“ eine wirtschaftliche Depression an. Als Ursachen für den Aufschwung gelten mehrere Faktoren: Der Handel innerhalb der Reichsgrenzen wurde stark vereinfacht. Erstmals in der Reichsgeschichte wurde ein einheitlicher Binnenmarkt geschaffen. Die behindernden Landeszölle entfielen. Ein einheitliches metrisches Maßsystem wurde Ende 1872 eingeführt. Eine durch Kriegserfolg und Reichsgründung ausgelöste allgemeine Aufbruchstimmung führte zu einem enormen Investitionsanstieg und Bauboom. Die sehr hohen Reparationszahlungen Frankreichs finanzierten ebenfalls maßgeblich die Gründerzeit. Schon 1872 übertrumpfte das Deutsche Reich das durch den Krieg geschwächte Frankreich als Industriemacht. Von etwa 1873 bis etwa 1879 folgte die sogenannte Gründerkrise. Sie wurde allgemein bewusst ab der Berliner Börsenpanik im Oktober 1873 (der Wiener Börsenkrach am 9. Mai 1873 gilt als ein Vorbote). Zunächst fiel die Industrieproduktion leicht; dann stagnierte sie. Die Wirtschaftskrise war eine Folge überhitzter Spekulationen, eine Folge von sinkender Nachfrage und von Überkapazitäten, die in den Aufschwungjahren aufgebaut worden waren. Die unterschiedlichen Branchen litten in unterschiedlichen Phasen und unterschiedlich stark unter der Krise. Besonders betroffen waren Montanindustrie, Maschinenbau und Baugewerbe; die Konsumgüterindustrie litt weniger. Viele Güterpreise, Gewinne und Löhne fielen beträchtlich. Die Landwirtschaft geriet Mitte der 1870er Jahre in die Krise. Hier spielten vor allem strukturelle Gründe und das Entstehen eines Weltgetreidemarktes eine Rolle. In direkter Konkurrenz mit Russland und den USA waren deutsche Getreide bald selbst auf dem Binnenmarkt zu teuer. Eine langfristig wichtige Folge war das Entstehen von Wirtschafts-Interessenverbänden. Organisationen wie der Verein Süddeutscher Baumwollindustrieller, der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, der Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen verlangten vom Staat die Einführung von Schutzzöllen und gründeten 1876 zur gemeinsamen Interessenvertretung den Centralverband deutscher Industrieller. Auch im Bereich der Landwirtschaft begannen schutzzöllnerische Verbände zu entstehen, auch wenn in Ostelbien zunächst die Freihändler dominierend blieben. Die Hinwendung zum Schutzzoll ließ Landwirtschaft und Industrie enger zusammenrücken. Die Gründerkrise hatte auch erhebliche Auswirkungen auf die Parteienlandschaft. Der Fortschrittsoptimismus der vergangenen Jahrzehnte wich einer pessimistischen Grundeinstellung. Vor allem das Gedankengut des Liberalismus („laisser faire, laisser aller“) wurde für den wirtschaftlichen Niedergang verantwortlich gemacht. Die freihändlerischen Liberalen verloren an Gewicht, während die Konservativen und das Zentrum gewannen. In dieser Stimmungslage nahm die Bedeutung des modernen Antisemitismus zu, da hinter Liberalismus und Börsenkapital das internationale Judentum vermutet wurde. Ausdruck fand er zum Beispiel im Berliner Antisemitismusstreit oder im Entstehen der christlich-sozialen Partei des Hofpredigers Adolf Stoecker. Die antisemitische Bewegung blieb eine Minderheit; 1881 gelang es ihr, für eine „Antisemitenpetition“ 255.000 Unterschriften zu sammeln. Auf die Regierung wuchs der Druck, regulierend in Märkte einzugreifen, statt wie in Zeiten der Hochkonjunktur auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen. Der Staat selber spürte die Gründerkrise durch sinkende Steuereinnahmen; das Defizit nahm zu. Der Zwang zu einer umfassenden Finanzreform wurde immer stärker. Gegen die Mehrheit der Liberalen war diese Reform allerdings nicht durchzusetzen. Diese wollten ihrerseits die Finanzschwierigkeiten nutzen, um verfassungspolitische Ziele durchzusetzen. Politik nach der Wende von 1878/79 Die immer weniger tragfähige Zusammenarbeit mit den Liberalen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und finanzpolitischen Probleme im Gefolge der Gründerkrise veranlassten Reichskanzler Otto von Bismarck zu einem fundamentalen Politikwechsel. Dieser Wechsel war gekennzeichnet durch das Sozialistengesetz, die Abwendung von den Liberalen und die Einführung von Schutzzöllen. Die Haltung der Nationalliberalen dazu war widersprüchlich. Sie trugen zwar einige Maßnahmen mit, dennoch standen sie vorerst aber grundsätzlich in Opposition zum „System Bismarck.“ Diese widersprüchliche Haltung zur Politik Bismarcks führte innerhalb der nationalliberalen Partei zu einer tiefen Krise. Zunächst spaltete sich 1879 ein rechter Flügel ab. Ein Jahr später ging aus dem eher linken Flügel die Liberale Vereinigung hervor, die entschieden gegen die konservative Wende anzukämpfen versuchte. Der politische Wandel von 1878 als Bündnis von landwirtschaftlichem Großgrundbesitz und Schwerindustrie wurde in der Forschung unter dem Begriff der Inneren Reichsgründung diskutiert. Soziallistengesetz Bismarck nutzte die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Mai und Juni des Jahres 1878 beide kurz vor der Reichstagswahl am 30. Juli 1878 für eine offen antisozialdemokratische Politik. Die Sozialdemokraten galten spätestens seit dem Bekenntnis von August Bebel und Wilhelm Liebknecht für die Pariser Kommune als Reichsfeinde. Darin stimmten Regierung und weite Teile des Bürgertums überein. Tatsächlich schienen sich die Sozialdemokraten im Aufwind zu befinden; sie kamen bei den Reichstagswahlen von 1877 auf 9,1 %. Außerdem war die Spaltung in ADAV und SDAP seit 1875 überwunden. Gleichwohl hat eine tatsächlich „revolutionäre“ Gefahr nie bestanden. Bismarck behielt sich mit dem Sozialistengesetz weitgehende Ausnahmeregelungen vor. Im ersten Anlauf scheiterte dieses Ziel allerdings an der Reichstagsmehrheit. Das zweite Attentat auf den Kaiser im Juni 1878 bot Bismarck die Gelegenheit, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Im Wahlkampf tat die Regierung alles, um die Revolutionsfurcht im Bürgertum und in den Mittelschichten zu schüren. Wirkungsvoll verbunden wurden in der konservativen Presse dabei Antisozialismus, Antiliberalismus und antisemitische Untertöne. Die Liberalen hatten dagegen einen schweren Stand, zumal sich die Interessenverbände erstmals für eine Schutzzollpolitik und gegen den liberalen Freihandel aussprachen. Die Wahl vom Juli 1878 brachte den Nationalliberalen sowie der Fortschrittspartei erhebliche Verluste, während die Freikonservative Partei und die Deutschkonservative Partei zulegen konnten. Vor allem verloren die Nationalliberalen ihre parlamentarische Schlüsselstellung an die Zentrumspartei. Dennoch brauchte die Regierung die Nationalliberalen für die Verabschiedung des Sozialistengesetzes, da sich das Zentrum angesichts des Kulturkampfs hier verweigerte. In der nationalliberalen Partei blieb das Vorhaben umstritten. Die Parteimehrheit um Rudolf von Bennigsen war angesichts der Wahlniederlage bereit, dem Gesetz zuzustimmen. Ein kleinerer linker Flügel um Lasker wollte zunächst an der Ablehnung festhalten und das Vorgehen als Angriff auf den Rechtsstaat verurteilen; schließlich stimmte aber auch dieser Flügel aus Sorge um den Zusammenhalt der Partei dem Gesetz schließlich zu, nachdem die Liberalen in den Beratungen einige Milderungen und eine Befristung des Gesetzes auf zwei Jahre durchgesetzt hatten. Am 19. Oktober 1878 nahm der Deutsche Reichstag das Gesetz mit 221 gegen 149 Stimmen von Seiten des Zentrums, der Fortschrittspartei und der Sozialdemokraten an. Das Sozialistengesetz selbst basierte auf der unbewiesenen Behauptung, die Attentäter auf den Kaiser seien Sozialdemokraten gewesen. Es ermöglichte das Verbot von Vereinen, Versammlungen, von Druckschriften und Geldsammlungen. Zuwiderhandlungen konnten mit Geld- oder Gefängnisstrafen belegt werden. Auch konnten Aufenthaltsverbote ausgesprochen oder über bestimmte Gebiete der kleine Belagerungszustand verhängt werden. Allerdings war das Gesetz befristet und musste daher vom Parlament immer wieder bestätigt werden. Außerdem blieben die Arbeit der Parlamentsfraktionen und die Beteiligung an Wahlen (für Einzelpersonen) davon unberührt. Das Gesetz erfüllte sein Ziel auf längere Sicht nicht. Die Sozialdemokratie blieb als politische Kraft bestehen. Es war mitverantwortlich dafür, dass die Anhänger der Partei sich in ein politisches Ghetto zurückzogen, das sich verfestigte. Als Reaktion auf die Verfolgung schlug die Partei überdies spätestens seit 1890 einen konsequent marxistischen Kurs ein. Übergang zur Schutzzollpolitik Bereits 1875 hatte Bismarck angekündigt, auf eine Schutzzollpolitik zu setzen, also den Freihandel einzuschränken. Dabei spielten finanzpolitische Erwägungen eine größere Rolle als ideologische Gründe. Bislang war das Reich auf Zuwendungen der Länder (Matrikularbeiträge) angewiesen gewesen, durch Zolleinnahmen erhoffte sich die Regierung eine Milderung dieser Abhängigkeit. Unterstützung erwartete Bismarck dafür vom landwirtschaftlich geprägten Zentrum und von den Konservativen sowie vom rechten, industriell geprägten Flügel der Nationalliberalen. Nach der Verabschiedung des Sozialistengesetzes begann Bismarck ab 1878, die neue Zoll- und Finanzpolitik umzusetzen. Da die liberalen zuständigen Fachminister von Camphausen und Achenbach diese Politik nicht mittragen konnten, traten sie zurück, wie zuvor schon Delbrück. Allerdings stießen Bismarcks Vorstellungen in der hohen Beamtenschaft und bei den Finanzministern der Länder zunächst auf einhellige Ablehnung. Eine wichtige Rolle bei der Aufweichung dieser Position spielen die wirtschaftlichen Interessenverbände und vor allem der Centralverband deutscher Industrieller, denen es gelang, Einfluss auf eine amtliche Denkschrift zu nehmen, die sich für eine protektionistische Politik aussprach. Die Verbände warben bei vielen Mitgliedern des Reichstages erfolgreich für diesen Politikwechsel. Quer durch alle bürgerlichen Parteien schlossen sich 204 Abgeordnete der konservativen Parteien, fast alle Mitglieder der Zentrumsfraktion und eine Minderheit von 27 nationalliberalen Abgeordneten den Forderungen an. Die Umsetzung des Programms erwies sich als schwierig, da die Nationalliberalen ihre Zustimmung von erheblichen konstitutionellen Zugeständnissen abhängig machten. Dasselbe gilt für die Zentrumspartei. Ihr Preis war die sogenannte „Franckensteinsche Klausel“: die Zolleinnahmen verblieben nicht vollständig beim Reich, sondern sollten ab einer bestimmten Höhe den Ländern zufließen. Bismarck konnte sich zwischen Zentrum und Nationalliberalen entscheiden, musste aber in jedem Fall erhebliche Abstriche von seinem Programm zum „Schutz der nationalen Arbeit“ machen. Er entschied sich aus verschiedenen Gründen für das Zentrum. Wohl am bedeutendsten war, dass die Forderungen des Zentrums nicht auf eine weitere Parlamentarisierung hinausliefen. Die Reichstagsrede Bismarcks vom Juli 1879 besiegelte das Ende der liberalen Ära. In ihr erteilte der Reichskanzler dem Ziel eines bürgerlich-liberalen, auf Dauer parlamentarisch geprägten Staates eine klare Absage zu Gunsten eines zwar weiterhin konstitutionellen, aber doch klar obrigkeitlich-monarchischen Systems. Einführung der Sozialversicherung Mit der industriellen Revolution und dem Übergang zur Hochindustrialisierung hatte sich der Schwerpunkt der sozialen Frage von den pauperisierten ländlichen Unterschichten hin zur städtischen Arbeiterbevölkerung verlagert. Auf kommunaler Ebene hatte es dazu verschiedene Ansätze gegeben, wie etwa das Elberfelder System der Armenfürsorge. Während des Kaiserreichs setzte nun eine neue Form staatlicher Sozialpolitik ein, die gleichzeitig ein wesentlicher Bestandteil der Entstehung des modernen Interventionsstaates war. Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft war auch aus Furcht vor einer revolutionären Arbeiterbewegung die Notwendigkeit einer Lösung der Arbeiterfrage nicht umstritten. Kontrovers diskutiert wurden die Mittel und vor allem die Rolle des Staates. Insbesondere die Liberalen setzten anfangs auf gesellschaftliche Lösungen, etwa in Form von Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiter. Aus Kreisen der Sozialreformer, vor allem aus dem Umfeld des Vereins für Socialpolitik, kamen Forderungen nach stärkerem staatlichen Engagement in dieser Frage. Bismarck und die von ihm geführte Reichsregierung hatten lange zwischen beiden Positionen geschwankt, ehe sie sich für eine stärker staatliche Intervention entschieden. Für diese Entscheidung spielte eine Rolle, dass gesellschaftliche Lösungsansätze, wie sie den Liberalen vorschwebten, in der Praxis der Dynamik der industriellen Entwicklung offenbar nicht gewachsen waren. Hinzu kam ein weiteres Motiv: Bismarck hoffte mit Hilfe einer staatlichen Sozialpolitik die Arbeiter an den Staat zu binden und damit auch der Repressionspolitik des Sozialistengesetzes seine Schärfe zu nehmen. Das ursprüngliche Konzept der Regierung sah eine staatlich getragene und steuerfinanzierte Zwangsversicherung vor. Der Gesetzgebungsprozess war langwierig. Während der Beratungen bewirkten Parteien, die Ministerialbürokratie und die Interessenverbände erhebliche Modifikationen der ursprünglichen Entwürfe. Die zentralen Schritte waren die Einführung der Krankenversicherung (1883), der Unfallversicherung (1884) sowie der Invaliditäts- und Altersversicherung (1889). Allen gemeinsam war, dass der direkte staatliche Einfluss entgegen den ursprünglichen Plänen begrenzt war. Die Versicherungen waren zwar öffentlich-rechtliche Einrichtungen, aber eben nicht staatlich. Außerdem enthielten sie Elemente der Selbstverwaltung und ihre Finanzierung erfolgte nicht primär aus Steuern, sondern aus den Beiträgen der Arbeitsmarktparteien beziehungsweise der Unternehmer. Außerdem folgten sie nicht dem Prinzip des Bedarfs der Betroffenen, sondern waren lohn- und beitragsbezogen. Die Einführung der Sozialversicherung wird als eine große Leistung Bismarcks gesehen, auch wenn das Ergebnis schließlich nicht ganz so ausfiel wie geplant. Dies gilt nicht nur für die Struktur der Versicherungen, sondern vor allem für das Ziel, mit ihrer Hilfe die Arbeiter von der Sozialdemokratie fernzuhalten. Dieses Ziel verfehlte er, auch weil der neu eingerichtete Wohlfahrtsstaat die Lohnentwicklung weiterhin dem freien Spiel der Marktgesetze überließ. Die Folge waren stagnierende Reallöhne trotz deutlich steigendem Volkseinkommen, die soziale Schere tat sich weiter auf. Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler spricht daher von einer „Zementierung der Ungleichheit“ in Deutschland. Grenzen des Systems Bismarck Ziele der konservativen Wende von 1878/1879 waren die Blockade einer weiteren Liberalisierung des Reiches und darüber hinaus eine Entwicklung im konservativen Sinn. Mit dem ersten Ziel war Bismarck weitgehend erfolgreich, das zweite ließ sich nicht umsetzen, da es im Parlament keine dauerhafte Mehrheit für ein solches Programm gab. Eine konservative Umgründung des Kaiserreichs stieß stets auf den Widerstand des Reichstages. Der Reichskanzler versuchte zwar, eine dauerhafte Mehrheit zustande zu bringen, scheiterte damit allerdings. In den frühen 1880er Jahren widersetzte sich im Wesentlichen das Zentrum den Plänen des Reichskanzlers. Solange der Kulturkampf noch nicht ganz beendet war, verfolgte die Partei unter der Führung von Ludwig Windthorst einen betont konstitutionellen Kurs, der die Rechte des Parlaments sicherte und sich einer engeren Zusammenarbeit mit der Regierung verweigerte. Zwar wurden 1880 ein neues Septennat verabschiedet und das Sozialistengesetz verlängert, andere Gesetzesentwürfe der Regierung, etwa für ein Tabakmonopol, scheiterten. Die Probleme verschärften sich für die Regierung mit der Reichstagswahl von 1881, als die beiden konservativen Parteien 38 und die Nationalliberalen sogar 52 Mandate im Reichstag einbüßten. Dagegen gewannen Sozialdemokraten und Zentrum leicht hinzu, während die Liberale Vereinigung und die Fortschrittspartei die eigentlichen Wahlgewinner waren. Zusammen gewannen die Linksliberalen 80 Sitze hinzu. Mit der Schwächung der parlamentarischen Unterstützung verschärfte Bismarck seinen Konfrontationskurs gegenüber dem Reichstag noch und versuchte, das Gewicht der Regierung im politischen System zu stärken. In diesen Zusammenhang gehörten Überlegungen, einen Deutschen Volkswirtschaftsrat aus Vertretern der Interessenverbände als eine Art Nebenparlament zu errichten. Ähnliche Pläne standen hinter der Schaffung von Berufsgenossenschaften als Träger der Unfallversicherung. Immer wieder wurden auch Gerüchte über die Änderung des Reichstagswahlrechts und eine Aufhebung der Verfassung lanciert. Mit keinem seiner antiparlamentarischen Vorstöße hatte Bismarck Erfolg. Sie trugen zur weiteren Verhärtung der Fronten bei und verstärkten in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass es dem Kanzler zunehmend an politischen Konzepten fehle. Kartellparteien und konservative Mehrheit In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre veränderte sich die politische Situation vor allem durch Verschiebungen im Parteiensystem. Die politische Ausrichtung der Nationalliberalen verlagerte sich nach dem Rücktritt von Bennigsen, dem Aufstieg von Johannes Miquel und dem wachsenden Einfluss agrarischer Interessen deutlich nach rechts. Die Partei stellte sich mit ihrer Heidelberger Erklärung von 1884 in den wesentlichen Streitfragen hinter den Reichskanzler und grenzte sich gegenüber den Linksliberalen ab. Dies führte ebenfalls 1884 indirekt zur Fusion der Liberalen Vereinigung mit der Deutschen Fortschrittspartei zur Deutsch-Freisinnigen Partei. Der Abbau der Kulturkampfgesetze seit der ersten Hälfte der 1880er Jahre führte zu einer Minderung der Oppositionshaltung des Zentrums. Nach der Reichstagswahl von 1884, die mit Verlusten der Linksliberalen und deutlichen Gewinnen der konservativen Parteien sowie leichten Zuwächsen der Nationalliberalen endete, schien eine Rechtskoalition möglich zu werden. Tatsächlich arbeiteten diese Parteien bei der Germanisierungspolitik in den preußischen Ostprovinzen zusammen. Forciert wurde der Plan einer rechten Mehrheit 1886 im Zusammenhang mit einer tiefen außenpolitischen Krise. Bismarck verlangte daraufhin die Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres, was von Zentrum und Freisinn strikt abgelehnt wurde. Die Folge war eine erneute Reichstagsauflösung. Im Wahlkampf tat die Regierung alles, um Linksliberale, Zentrum und Sozialdemokraten als Reichsfeinde abzustempeln. Darüber hinaus schlossen Konservative und Nationalliberale ein Wahlbündnis das sogenannte Kartell. Die Wahl von 1887, die im Zeichen eines möglichen Krieges mit Frankreich stattfand, brachte den Kartellparteien (vor allem den Nationalliberalen) Gewinne, die zu Lasten der Linksliberalen und der Sozialdemokraten gingen. Die Kartellparteien verfügten mit 220 von 397 Abgeordneten über eine absolute Mehrheit. Bismarck hatte zwar seither eine starke Mehrheit, gleichzeitig war er aber auch vom Fortbestand der Koalition abhängig. In der ersten Zeit arbeiteten Kartell und Regierung recht reibungslos zusammen. So wurde die umstrittene Militärvorlage ebenso beschlossen wie Gesetze im Interesse der Landwirtschaft. Auch das Sozialistengesetz wurde noch einmal bis 1890 verlängert. Danach nahmen die Spannungen allerdings deutlich zu. So stimmten die Nationalliberalen einem Friedensgesetz zur Beendigung des Kulturkampfs nicht zu, auch weigerte sich ein Teil ihrer Fraktion, die landwirtschaftlichen Schutzzölle noch einmal zu erhöhen. Dies Gesetz kam dann nur mit Hilfe des Zentrums zustande. Auch die Fortsetzung des Sozialistengesetzes, die Kolonialpolitik und die Sozialgesetzgebung stieß bei den Nationalliberalen auf Kritik. Die Sozialgesetze kamen ebenfalls nur mit Hilfe des Zentrums zustande. Im konservativen Lager verstärkten sich die Stimmen, die nach einer dauerhaften Zusammenarbeit mit dem Zentrum verlangten. Bündnisse und Außenpolitik Das Kaiserreich verdankte sein Entstehen im Krieg gegen Frankreich der wohlwollenden Neutralität von England und Russland. Diese relativ günstige diplomatische Großwetterlage hielt indes nicht an. Das strukturelle Hauptproblem war, dass mit der Gründung des Reiches eine neue Großmacht in Europa entstanden war, die erst ihren Platz im System der Mächte finden musste. Obwohl Bismarck immer wieder die Saturiertheit der neuen Nation beteuerte, erschien den übrigen Staaten die Politik Deutschlands als nicht recht berechenbar. Insgesamt schien die außenpolitische Situation relativ offen. Fixpunkte waren jedoch einerseits der deutsch-französische Gegensatz und andererseits die Konkurrenz von Großbritannien und Russland (The Great Game). Es gab für die deutsche Außenpolitik verschiedene theoretische Handlungsoptionen sich in das bestehende Staatensystem zu integrieren. Obwohl sich Bismarck zunächst alle Alternativen bis hin zu einem Präventivkrieg offen hielt, entschied er sich letztlich aber für eine defensive Variante als „ehrlicher Makler“ zwischen den Mächten. Bündnissysteme bis Anfang der 1880er Jahre Am 7. September 1872 kam es zu einem Dreikaisertreffen. Kaiser Wilhelm begrüßte in Berlin Kaiser Franz Joseph I. und Zar Alexander II. Am 22. Oktober 1873 wurde das Dreikaiserabkommen zwischen dem Deutschen Reich, Russland und Österreich-Ungarn unterzeichnet. Am Beginn der Außenpolitik des neuen Reiches standen damit einerseits ein enges Bündnis mit Österreich-Ungarn und ein gutes Einvernehmen mit Russland. Die Entscheidung für eine defensive Politik fiel 1875 nach der sogenannten Krieg-in-Sicht-Krise, als Russland und Großbritannien deutlich gemacht hatten, einen möglichen Präventivkrieg des Reiches gegen das wieder erstarkte Frankreich nicht hinzunehmen. Dies machte deutlich, dass der Versuch, eine hegemoniale Stellung zu erreichen, die Gefahr eines europäischen Krieges in sich trug. Die Entscheidung für eine Gleichgewichtspolitik wurde zuerst in der Balkankrise 1877/1878 im Zusammenhang mit dem Russisch-Türkischen Krieg deutlich. Während die übrigen Großmächte eigene Interessen hatten, versuchte Deutschland als Vermittler aufzutreten. Dabei bestand allerdings die Gefahr, die Unterstützung Österreich-Ungarns und Russlands zu verlieren. Daher hat Bismarck alles vermieden, um sich zwischen beiden Seiten entscheiden zu müssen. Das Ziel war es, eine Konstellation herbeizuführen, wie der Kanzler in seinem Kissinger Diktat von 1877 festhalten ließ, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden. Zur Lösung des Interessengegensatzes zwischen Russland und Großbritannien nach dem Russisch- Türkischen Krieg fand 1878 der Berliner Kongress statt. Bismarck bemühte sich dabei um die Rolle als „ehrlicher Makler“ und um einen Ausgleich zwischen den Großmächten. Dies stand allerdings im Gegensatz zur Hoffnung der russischen Regierung, die sich von dem Kongress eine diplomatische Bestätigung der erzielten militärischen Erfolge auf dem Balkan erwartet hatte. Insofern wurde das Ergebnis, das gerade Österreich mehr Einfluss zugestand, ohne militärische Opfer gebracht zu haben, von Russland als eine diplomatische Niederlage gewertet. Nach dem Kongress verschlechterte sich das Verhältnis des Zarenreichs gegenüber Deutschland erheblich, sodass ein Bündnis zwischen diesen beiden Staaten immer schwieriger zu erhalten war. Bismarck suchte daher noch deutlicher als zuvor ein Zusammengehen mit Österreich-Ungarn. Dies gipfelte am 7. Oktober 1879 in dem sogenannten „Zweibund“. Mit dem Bündnis war die Rolle des Deutschen Reiches als ungebundenem Mittler zwischen den Mächten beendet. Es begann in der Folge der Aufbau des bismarckschen Bündnissystems, zunächst nach Osten, dann nach Westen und Süden. Im Jahr 1881 erfolgte der Abschluss des Dreikaiserbundes mit Österreich-Ungarn und Russland. Inhaltlich verpflichteten sich die Mächte, den Status quo auf dem Balkan nur in Absprache zu verändern und im Kriegsfalle mit einer vierten Macht wohlwollende Neutralität zu wahren. Diese Bestimmung bezog sich in erster Linie auf einen neuen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland sowie Großbritannien und Russland. Da die Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Russland auf dem Balkan aber bald wieder zunahmen, scheiterte die Dreikaiserpolitik auf längere Sicht. Nach Süden wurde 1882 der Zweibund mit Italien zum Dreibund erweitert. Hintergrund dieser Erweiterung waren die zunehmenden Spannungen zwischen Frankreich und Italien in Tunesien. Auch der Dreibund war ein Defensivbündnis und entlastete zudem noch Österreich-Ungarn, da es über den Verlauf der Grenze mit Italien immer wieder zu Streitigkeiten gekommen war. Das Kaiserreich stand daher zu Beginn der 1880er Jahre im Zentrum zweier Bündnissysteme. Die Aufrechterhaltung war kompliziert, von Widersprüchen gekennzeichnet und labil. Auf dieser instabilen Basis gelang für einige Zeit ein Festschreiben des Status quo. Beginn des deutschen Imperialismus Mitte der 1880er Jahre führte die imperialistische Expansion der Großmächte zu einer neuen Dynamik in den Beziehungen, die das Aufrechterhalten des Gleichgewichts immer schwieriger machte und es schließlich aus der Balance warf. Anfangs wurde die Expansion nach Übersee von privaten Unternehmern getragen. Zwar kam es bald zu staatlichen Unterstützungen, aber diese bewegten sich nach britischem Vorbild noch im Rahmen des Aufbaus eines „informal Empire“ (das heißt die Kontrolle eines Gebiets ohne offizielle staatliche Inbesitznahme). Gründe für ein Engagement in Übersee waren einerseits das Auftreten einer wirkungsmächtigen Kolonialbewegung in Deutschland, die in Kolonien eine Möglichkeit sah, die Gründerkrise zu überwinden und den Bevölkerungsanstieg zu bremsen. Aber der Besitz von Kolonien wurde auch als eine nationale Prestigefrage betrachtet. Als Kolonialpropagandisten traten bald Organisationen wie der Deutsche Kolonialverein oder die Gesellschaft für Deutsche Kolonisation auf. Beide schlossen sich später zur Deutschen Kolonialgesellschaft zusammen. Die Gründe, weshalb Bismarck dem Druck der Kolonialbewegung nachgab und begann, ein formelles Empire zu errichten, sind in der Forschung umstritten. Ein Argument ist, dass der Reichskanzler die Probleme Großbritanniens unter anderem in Afghanistan und im Sudan ausnutzte, um durch eine antienglische Politik die Annäherung an Frankreich zu suchen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Berliner Kongokonferenz 1884/85, als Deutschland und Frankreich zusammen Englands Mittelafrikapolitik entgegentraten. Andere Interpretationen verweisen vor allem auf innenpolitische Gründe. Der Erwerb von Kolonien sollte danach parteipolitische Erleichterungen für die Regierung bringen und bei den Reichstagswahlen von 1884 Stimmen für die der Regierung nahestehenden Parteien bringen. Eine dritte These deutet die Wende als Sozialimperialismus. Danach sollten Kolonien gewissermaßen die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten überdecken und Legitimationsdefizite abbauen. Neuere Forschungen sehen eine Mischung aus verschiedenen Ursachen und betonen zusätzlich die Eigendynamik in den späteren Kolonien. Das Jahr 1884 markiert dann den eigentlichen Beginn der deutschen Kolonialpolitik, als im April das sogenannte „Lüderitzland“ als Keimzelle des späteren Deutsch-Südwestafrika unter den Schutz des Deutschen Reichs gestellt wurde. Auch in Deutsch-Ostafrika, Togo, Kamerun und im Pazifik wich die informelle einer formellen Herrschaft. Zwar blieb die Kolonialpolitik unter Bismarck Episode, die Expansion endete bereits 1885, allerdings war damit ein Anfang für ein weiteres Ausgreifen ebenso wie für Konflikte mit Großbritannien gemacht. Übersicht über die deutschen Kolonien („Deutsche Schutzgebiete“) Deutsch-Neuguinea seit 1885, erworben durch Otto Finsch, im Auftrag der Neuguinea-Kompagnie; dazu gehörte: Kaiser-Wilhelms-Land (heute nördliches Papua-Neuguinea), Bismarck-Archipel (Papua-Neuguinea), Bougainville-Insel (Papua-Neuguinea), nördliche Salomon-Inseln 1885–1899 (Salomonen (Choiseul und Santa Isabel)), Marianen seit 1899, Marshallinseln seit 1885, Palau seit 1899, Karolinen (Mikronesien) seit 1899, Nauru seit 1888 Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda, Burundi, Mosambik-Kionga-Dreieck) seit 1885, erworben durch Carl Peters Deutsch-Samoa seit 1899, heute unabhängiger Staat Samoa Deutsch-Somaliküste (heute Teil von Somalia) 1885–1888, Ansprüche erworben durch Gustav Hörnecke, Claus von Anderten und Karl Ludwig Jühlke Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia, Botswana-Südrand des Caprivi-Zipfels) seit 1884, erworben durch Franz Adolf Eduard Lüderitz Deutsch-Witu (heute südliches Kenia), 1885–1890, erworben durch die Gebrüder Denhardt aus Zeitz Kamerun seit 1884, (heute Kamerun, Nigeria-Ostteil, Tschad-Südwestteil, Westteil der Zentralafrikanischen Republik, Nordostteil der Republik Kongo, Gabun-Nordteil) erworben durch Gustav Nachtigal Kapitaï und Koba (heute Guinea) 1884–1885, erworben durch Friedrich Colin Kiautschou seit 1898 (China, für 99 Jahre gepachtet) Mahinland (heute Nigeria) März bis Oktober 1885, erworben durch Gottlieb Leonhard Gaiser Togo seit 1884, (heute Togo, Ghana-Westteil) erworben durch Gustav Nachtigal Außenpolitische Doppelkrise 1885/1886 Nicht nur die Hinwendung zu einer imperialistischen Politik in Übersee, sondern auch zwei Krisenherde in Europa veränderten die deutsche Außenpolitik. In Frankreich entstand, ausgehend nicht zuletzt von General Georges Ernest Boulanger, eine nationalistische Sammlungsbewegung, die für einen Revanchekrieg gegen Deutschland eintrat. Die Gefahr wuchs noch, als Boulanger Kriegsminister wurde. Bismarck spielte diese Bedrohung aus innenpolitischen Gründen bewusst hoch, unter anderem um dazu beizutragen, dass bei den Reichstagswahlen von 1887 eine regierungsfreundliche Mehrheit entstehen konnte. Gleichzeitig diente die Verschärfung des Tons gegenüber Frankreich der Überdeckung der außenpolitischen Schwierigkeiten in Ost- und Südosteuropa. Dort hatte die Bulgarische Krise zur Verschärfung der Gegensätze zwischen Österreich-Ungarn und Russland und zum faktischen Zerbrechen des Dreikaiserbundes geführt. Auch Deutschlands Verhältnis zu Russland verschlechterte sich nicht zuletzt wegen der Schutzzollpolitik. Bei der deutschen Regierung wuchs die Sorge um einen Zweifrontenkrieg, da es offenbar zu einer Annäherung zwischen Russland und Frankreich kam. Innenpolitisch geriet Bismarck angesichts der Doppelkrise unter Druck, da ihm Kritiker vorwarfen, seine Außenpolitik sei überholt. Von einigen Militärs, wie von General Alfred von Waldersee, aber auch von Deutschkonservativen und selbst von Sozialdemokraten, wurde eine scharfe Gangart gegenüber Russland bis hin zu einem Präventivkrieg gefordert. Bismarck versuchte die teilweise von ihm selbst ausgelöste nationalistische Welle zu dämpfen und die Krise diplomatisch beizulegen. Dies gelang mit Mühen, die deutlich machten, dass sich der politische Spielraum Deutschlands seit der Reichsgründung erheblich reduziert hatte. Im Jahr 1887 gelang die Wiederherstellung des Dreibundes mit Österreich-Ungarn und Italien. Durch verschiedene weitere Verträge, wie dem Mittelmeerabkommen zwischen Italien und Großbritannien und dem Orientdreibund, an denen Deutschland nicht beteiligt war, wurde es durch seine Verbündeten doch Teil einer antirussischen Koalition. Noch im selben Jahr wurde anstelle des Dreikaiserabkommen am 18. Juni der Rückversicherungsvertrag mit Russland abgeschlossen. Beide Staaten verpflichteten sich bei einem unprovozierten Angriff seitens einer dritten Macht zu wohlwollender Neutralität. Dabei sah ein geheimes Zusatzprotokoll die deutsche Unterstützung Russlands in dessen Balkan- und Bosporuspolitik vor. Damit ging Deutschland hier Verpflichtungen ein, die im Gegensatz zu den Bündnissen und Verträgen mit anderen Staaten standen. Wichtiger war Bismarck an dieser Stelle offenbar, ein mögliches Bündnis zwischen Frankreich und Russland zu verhindern. Insgesamt war die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts am Ende von Bismarcks Amtszeit immer schwieriger geworden. Hatte er zu Beginn noch die vorhandenen Gegensätze zwischen den Großmächten austarieren können, blieb ihm am Ende nur noch, die Spannungen zu schüren, um dann zu versuchen, sie im Sinne des Reiches einzuhegen.
Ära Bismarck
Deutsches Kaiserreich Deutsches Kolonialreich (1914)
Deutsche Kolonien 1910 (zeitgenössische Karten)
„Wir Deutsche fürchten Gott, sonst Niemand auf der Welt.“ (Zitat einer Rede Bismarcks vor dem Reichstag am 6. Februar 1888; Propagandadruck, zeitgenössische Kreidelithographie)