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Die Verhältnisse in Ungarn ähnelten denen in Polen. Ein Lehnsverband, den man sonst überall im mittelalterlichen Europa findet, bestand dort nie. Jedes Mitglied des kriegerischen Stammes der Magyaren, das von niemandem abhängig war und den Fahnen des Königs folgen konnte, rechnete sich zum Adel (nemesség). Auf diese Weise entstand der sehr zahlreiche ungarische Adel, der wie in Polen etwa 12–16 % der Gesamtbevölkerung ausmacht. Aus der Masse des Adels gingen allmählich die Magnatenfamilien hervor. Am Anfang des 11. Jahrhunderts gab König Stephan I. (der Heilige) dem Lande eine Verfassung, durch welche die Krone im Geschlecht Arpad erblich wurde und Prälaten mit dem hohen Adel samt niederem Adel als privilegierte Stände galten. Im Jahre 1405 vereinigte sich im Nationalkonvent der niedere Adel mit den Vertretern der Städte zur Ständetafel, während die hohen geistlichen Würdenträger und der Hochadel die Magnatentafel bildeten, in welcher jeder Bischof oder Magnat persönlich vertreten war. In der Ständetafel hatte der niedere Adel das unbedingte Übergewicht; auf den Komitatsversammlungen hatte jeder grundbesitzende Edelmann (auch wenn er einen Kleinsthof bewirtschaftete) Sitz und Stimme. (Solche Kleinadeligen wurden im Volksmund hétszilvafás nemes „Adeliger mit sieben Zwetschgenbäumen“ genannt.) Der Adel war befreit von Zöllen, Steuern und Einquartierungen und vom Militärdienst: Er zog nur zu Felde, wenn ein Adelsaufgebot (Insurrektion Nemesi felkelés) für König und Vaterland ausgerufen worden war. Ein Adliger konnte nur von seinesgleichen gerichtet werden und die wichtigeren Ämter waren ihm vorbehalten. Erst 1843 wurden nichtadlige Personen zu den Ämtern zugelassen. Der magyarische Adel kannte nur zwei Titel: Graf (gróf) und Baron (báró). Rang und Titel eines Fürsten bzw. Herzogs (herceg) kamen nur den Söhnen des Königs zu. Andere Adelige hatten als äußeres Zeichen ihres Ranges meistens nur die Schreibweise der Endung ihres Familiennamens auf -y (statt auf -i) bzw. den kleingeschriebenen Adelsvortitel (z. B. nagybányai Horthy Miklós). Fünf Grafengeschlechter erhielten ausländische Fürstentitel: Batthyány (1764), Esterházy (1687), Erdődy (1654) und Odescalchi (1689) wurden vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zu Reichsfürsten erhöht, Koháry (1815) und Pálffy (1816) vom Kaiser von Österreich zu Fürsten des Kaisertums; diese Titel wurden in Ungarn anerkannt. Später erwarben auch zehn ausländische fürstliche Häuser das ungarische Indigenat. In der Zeit der Monarchie mit einem König bis 1918 gab es in Ungarn außer diesen 14 Fürstenhäusern 98 gräfliche und 94 freiherrliche Geschlechter, deren Titel aber nicht weiter zurück als um 1550 reichten und habsburgische Verleihungen waren. Diese Zahl wuchs nach 1918, da der Reichsverweser Admiral Miklós Horthy in der königlosen Monarchie in großem Maße Standeserhebungen (zum Beispiel in eine Art „Ritterstand“, siehe Vitézi Rend) vornahm. Diese Ordensverleihungen in der Zeit des Königreichs Ungarn (1920–1945) sind anerkannte erbliche Adelungen. In Deutschland können Angehörige derartiger Familien sofern sie vor Januar 1947 die ungarische Staatsangehörigkeit verloren hatten, ihren Namen mit „von“ bzw. „Ritter von“ führen. Die nach dem Krieg gegründeten Orden und ihre Titel haben hingegen keine Rechtsqualität im Sinne des historischen Adelsrechts. Der Ungarische Adel war mit dem österreichischen und böhmischen lange Zeit unter dem Dach der Donaumonarchie vereint und durch zahlreiche Eheschließungen verwandt, betrachtete sich aber immer als Führungselite einer eigenständigen Nation. Beim Zerfall des Habsburgerreiches wurde „Großungarn“ durch den Vertrag von Trianon 1920 aufgeteilt, das Königreich Ungarn (1920–1946) blieb ein Rumpfstaat ohne König, weite Teile Oberungarns kamen an die Erste Tschechoslowakische Republik (und heute die Slowakei), Siebenbürgen an das bis 1947 existierende Königreich Rumänien und das Burgenland an die Republik Österreich. Der Kroatische Adel wurde lange Zeit dem ungarischen zugerechnet, da sich Kroatien seit 1102 im Staatsverband mit Ungarn befand. Ab 1745 wurde innerhalb der Habsburgermonarchie unter der ungarischen Krone Kroatien gemeinsam mit dem Königreich Slawonien zum autonomen Königreich Kroatien und Slawonien zusammengefasst. Entsprechendes gilt für den Adel im Königreich Dalmatien und in der Markgrafschaft Istrien. Diese Regionen kamen mit der 1918/19 erfolgten Sezession 1920 an das Königreich Jugoslawien. In der Zweiten Ungarischen Republik ab 1946 geriet der landsässige Adel unter Druck, in der kommunistischen Volksrepublik Ungarn ab 1949 wurde er enteignet und teilweise verfolgt. Ähnliches gilt für die Tschechoslowakische Republik (1948–1960). 1945 erfolgte in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien ebenfalls die Enteignung des Großgrundbesitzes, ebenso ab 1945 unter den Kommunisten in Rumänien. Durch die Abschaffung des Adels und die Parzellierung der Güter nach 1945 wurde dem ungarischen Adel die Existenzgrundlage genommen, viele Adlige blieben jedoch im Lande und emigrierten erst während des Ungarnaufstands 1956, um ein oft kümmerliches Dasein in Deutschland oder Österreich zu fristen. Die Einzigen, die von der Konfiskation teilweise verschont blieben, waren die Fürsten Esterházy, weil sie ihre Güter teilweise im seit 1921 österreichischen Burgenland hatten; jedoch verbrachte Fürst Paul V. Esterházy bis 1956 fast zehn Jahre in einem ungarischen Gefängnis. Nach 1991 kehrten viele Vertreter des Adels, auch des Hochadels, nach Ungarn zurück (zum Beispiel die Familie Isépy).
Ungarischer Adel