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Im Hochmittelalter entwickelte sich der Adel aus Edelfreien und Ministerialen wie im übrigen Reich. Viele Familien übten eigene Gerichtsbarkeit aus, manche erlangten eine hochadelige, dynastische Stellung wie die Habsburger, Kyburger, Lenzburger, Thiersteiner, Rapperswiler, Toggenburger oder Werdenberger. Im Spätmittelalter entwickelte sich in den vom 13. bis 15. Jahrhundert sich emanzipierenden freien Reichsstädten ein eidgenössisches Patriziat, das sich aus reich gewordenen Kaufmannsfamilien mit oder ohne Adelsbrief, aus bürgerlichen Notabeln und bisweilen auch stadtsässig gewordenem Landadel zusammensetzte. Diese Patrizier erwarben häufig Landsitze oder Grundherrschaften mit eigener Gerichtsbarkeit, erbauten sich Schlösser und führten eine aristokratische Lebensform. In den Städten bildeten sie den alles beherrschenden Rat (Grosser Rat bzw. Kleiner Rat) und verdrängten Zünfte und Handwerkerschaft von der Macht. Mit dieser Annäherung der bürgerlichen Notabeln an die Lebensweise des Adels und der zunehmenden Abschottung gegenüber Aufsteigern bildete sich in den Städten der frühen Neuzeit das Patriziat, ein Begriff, der in der Renaissance eingeführt wurde, vergleichbar dem Patriziat in der italienischen Signoria, etwa den venezianischen Nobilhòmini. Wie diese und im Unterschied zum sonstigen Landadel im Alten Reich blieben die Patrizier aber zumeist auch wirtschaftlich (überwiegend im Handel, jedoch zunehmend auch im Söldnerwesen) tätig, im Unterschied zur ansonsten sozial ähnlich strukturierten englischen Gentry, die hauptsächlich von Pachteinnahmen lebte. Da die Schweiz bis zum Westfälischen Frieden 1648 offiziell Teil des Heiligen Römischen Reichs war, verlieh der römisch-deutsche Kaiser den Reichsadelsstand nicht selten auch an Schweizer Geschlechter, namentlich an viele landsässig gewordene Patrizier oder an Offiziere in kaiserlichen Diensten. Wenige Jahre nach der Loslösung vom Reich schuf etwa Bern eine eigene gesellschaftliche Rangordnung, die sich nicht nach dem Adelsrecht im Reich richtete. In der Stadt und Republik Bern verschmolzen viele adlige Grundherren aus der Umgebung der Stadt mit dem dortigen Patriziat zu einer Aristokratie, die die Macht bis zum Jahre 1798, der französischen Invasion, ausübte. Zudem erwarben Angehörige des Berner Patriziats in den von Bern verwalteten Gebieten Herrschaften, die mit dem Recht zur Führung eines Adelstitels verbunden waren. Auch nach 1648 verliehen ausländische Mächte wie Frankreich, Preußen oder der Heilige Stuhl Adelstitel an in ihren Diensten stehende Schweizer. Im bis 1848 von Preußen in Personalunion regierten Neuenburg wurden zudem bis ins 19. Jahrhundert viele Patrizierfamilien in den Briefadel aufgenommen. Traten Angehörige von Schweizer Adelsfamilien in fremde Militärdienste (zum Beispiel in die des Vatikans oder Frankreichs und Preußens), so führten sie dort in der Regel ihre Rangtitel. Die 1792 beim Tuileriensturm durch die Sansculotten getöteten Angehörigen der Schweizergarde waren zu 90 % schweizerische Adlige. Eine besondere Rolle spielte der Adel des 1367 gegründeten Freistaats der Drei Bünde, einer Art Adelsrepublik, die bis zu ihrem Ende 1798 im Heiligen Römischen Reich verblieb und erst danach zur Schweiz kam; diese Familien (wie die von Salis und von Planta) unterhielten oft Verbindungen zu den österreichischen Habsburgern, aber auch zu Venedig und Frankreich. Formell verloren die „Gnädigen Herren“ in den Städten der Schweiz ihre Macht vorübergehend mit der Helvetischen Republik und definitiv mit den liberalen Revolutionen in den 1830er und 1840er Jahren (Regeneration 1831 und Sonderbundskrieg 1847). Die ehemaligen Patrizierfamilien spielten aber noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle. Rechtlich oder gesellschaftlich haben Adel und Patriziat in der egalitären Schweiz heute keine Bedeutung mehr. Die Führung der Prädikate und Titel ist ganz dem persönlichen Ermessen überlassen, jedoch können Titel wie Graf oder Freiherr nicht in amtliche Schriften eingetragen werden, sondern lediglich das Prädikat „von“. Es ist allerdings in der Schweiz nicht ganz einfach, alten Adel (z. B. die Grafen von Erlach, Grafen von Hallwyl, Freiherren von Bonstetten, Herren von Salis, von Planta u. a.), neuzeitliches, briefadeliges Patriziat (von Graffenried, von Wattenwyl) und die häufigen nicht-adeligen Herkunftsnamen (von Gunten, von Siebenthal usw.) zu unterscheiden. Als Synonym zu „von“ wird in der Westschweiz „de“ verwendet, wie de Reyff, de Watteville etc.
Der Adel in der Schweiz