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Die ältesten Berichte über Adel im Gebiet des heutigen Deutschlands finden sich in der frühestens 98 n. Chr. in Rom erschienenen Germania des Tacitus. Der fränkische Abt Nithard, ein Enkel Karls des Großen, beschreibt 842 im IV. Buch, cap. 2 seiner Geschichte die drei Stände der Sachsen. In fränkischer Zeit entstanden die Stammesherzogtümer. Karl der Große breitete durch die Eroberung von Sachsen das fränkische Grafensystem auf das spätere gesamte Heilige Römische Reich aus. Im Hochmittelalter verschmolzen die ursprünglichen Edelfreien und die Ministerialen durch das Lehnswesen zur Schicht der Ritterbürtigen, deren bis heute existierende Geschlechter als Uradel bezeichnet werden. Es entstand eine Lehnspyramide, deren Stufen als Heerschilde bezeichnet werden. Aus den Edelfreien des dritten und vierten Heerschilds sowie den Reichsministerialen entstanden im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit die Landesherren. Als 1495 der Reichstag zu einer festen Institution der Reichsverfassung wurde, erhielten die Inhaber großer Reichslehen (Kurfürsten, Fürsten, Herzöge, Grafen sowie die Reichsprälaten) erbliche Sitze und wurden dadurch zu Reichsständen. Die Verleihung von Adelstiteln an Bürgerliche begann in den deutschen Landen (Deutschland, deutscher Sprachraum) in der Zeit Kaiser Karls IV. nach französischem Vorbild durch die Erhebung von Beamten (vor allem Rechtskundige) in die Adelsklasse (Briefadel). Die Nobilitierung war im Heiligen Römischen Reich ein Vorrecht des Kaisers oder während Thronvakanzen des Reichsvikars. Seit 1806 konnten die Fürsten der Rheinbundstaaten und nach 1815 alle deutschen Landesfürsten Standeserhebungen bis hin zum Grafen vornehmen, die Könige bis in den Fürstenstand. Dies blieb auch nach der Entstehung des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 bis 1918 so. Wilhelm II., letzter deutscher Kaiser Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs 1806 kam ein Großteil der bis dahin reichsunmittelbaren Reichsstände durch Mediatisierung unter die Herrschaft von Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes; sie behielten als Standesherren nur noch rudimentäre Sonderrechte; auch der niedere Adel hatte in den meisten Ländern des Deutschen Kaiserreichs kaum noch Sonderrechte. Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren aber weite Teile des öffentlichen Lebens, zumal herausgehobene Positionen in Verwaltung, Diplomatie und Militär durch Gepflogenheit Adligen vorbehalten; herausragend befähigte Bürgerliche wurden oft nobilitiert und bildeten einen gesellschaftlich dem Bürgertum näherstehenden, kaum je landgesessenen Offiziers-, Beamten- und Professorenadel. Nach dem Ende der Monarchie wurde in Artikel 109 der Weimarer Verfassung (Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919) bestimmt: „Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden.“[45] Die von den Fraktionen der USPD und SPD in der Nationalversammlung beantragte Formulierung „Der Adel ist abgeschafft“ wurde nach längerer Diskussion am 15. Juli 1919 abgelehnt.[46] Heute leben in Deutschland nach den Angaben der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände (VdDA) rund 80.000 Angehörige adliger Familien. Nach der Abschaffung der Adelsprivilegien hat der Freistaat Preußen 1920 entschieden, dass auch in der Anrede kein Unterschied zwischen Bürgern und ehemaligen Adeligen zu machen sei. Diese Regelung wurde von der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Nach heutigem deutschen Protokoll stehen deutschen Staatsbürgern mit ehemaligen Adelstiteln im Namen keine Besonderheiten mehr in Anrede und Schriftverkehr zu. Dies ergibt sich aus dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Für ausländische Adelige gilt diese Regelung nicht. Ihnen steht nach deutschem Protokoll eine besondere Anrede je nach Titel zu. Offiziellen Charakter und protokollarische Bedeutung haben damit diese Titel, Rangbezeichnungen und Anreden nur in Ländern, in denen der Adel und seine Vorrechte nicht abgeschafft sind. Eine Verwendung der besonderen Anrede in Bezug auf Deutsche mit einer Abstammung vom historischen Adel oder einem erlangten Namen, der an den historischen Adel erinnert, ist damit rein freiwillig und entspricht nicht dem offiziellen Protokoll. Der Feuilletonist Jens Jessen veröffentlichte anlässlich der 100-jährigen „Abschaffung“ des Adels im Jahr 2018 eine essayistische Betrachtung über dessen Fortleben, seine Eigenheiten sowie verbliebene Aspekte seiner Verschiedenheit vom Bürgertum.
Wilhelm II., letzter deutscher Kaiser
Deutscher Adel